Ich biete als psychologische Beraterin Singles und Paaren Unterstützung zu den Themen Sexualität und Beziehung an. Regelmäßige Workshops auf der Grundlage des "Wheel of Consent": Das 3-Minuten-Spiel. Ein Berührungsspiel zur Erforschung einvernehmlicher Berührungen.

Alle Artikel von Sandra Kaiser

„Intimität entsteht durch Kommunikation“

Michael Firnkes hat mir Fragen zu dem Thema Sexualität und Konsens gestellt – hier ist das Interview

Wenn sich zwei Menschen sexuell begegnen, die sich noch nicht lange kennen, gibt es auf der einen Seite nicht selten die Angst vor Grenzverletzung. Auf der anderen Seite steht die Sorge davor, eben jener beschuldigt zu werden, obwohl man von einem gemeinsamen Konsens ausging. Sandra, wie bleiben trotzdem intime bzw. sexuelle Begegnungen möglich, die spontan im Moment entstehen?

Wenn zwei Menschen zusammen sexuell werden wollen, gehe ich davon aus, dass sie sich etwas Gutes tun wollen: gemeinsam Erregung erleben, körperliche Nähe spüren und vielleicht emotionale Verbindung erleben. Angst ist dabei kein guter Begleiter.

Wenn ich mich im Alltag verabrede komme ich ohne Kommunikation über gemeinsame Vorstellungen und Wünsche auch nicht dazu gemeinsam etwas Schönes zu erleben. Interesse am Anderen, reden, zuhören, nachfragen – das halte ich für wichtig.

Spüre ich dennoch Irritationen im sexuellen Kontakt, hilft es Augenkontakt herzustellen, langsamer zu werden, vielleicht auch mal eine kurze Pause zu machen, was zu trinken oder auf die Toilette zu gehen, um dann zu schauen: Ist meine Lust noch da? Will ich da anknüpfen, wo wir gerade waren?

„Muss ich mir jetzt alles vorher unterschreiben lassen?“ ist ein Gedanke vor allem der männlichen Seite, die ich durchaus nachvollziehen kann. Ist das aus deiner Sicht eine Möglichkeit, um besser zu reflektieren, was man will und was nicht?

Interessant an diesem Ansatz finde ich den Punkt darüber zu reflektieren, was man klar will, was man klar nicht will und den Raum der dazwischen existiert: Unsicherheit. Genau dieser Raum ist ja extrem spannend und vor allem intim in dem Sinne, dass ich mich zeige. Dazu gehört auch meine und deine Unsicherheit, die ich menschlich finde und die durchaus reizvolle Erforschung des »Raum des Nichtwissens«.

„Ich wünsche mir, dass du unbedingt sofort kundtust, wenn dir etwas nicht gefällt, was ich tue.“

Welche Alternativen gibt es, die weniger formell und dennoch klar sind?

Ein guter Freund hat mir von einer sehr schönen Möglichkeit erzählt, wie er klar ist ohne formell zu sein: „Ich selbst sage neuen, aber auch bisherigen Sexpartnern: Ich wünsche mir, dass du unbedingt sofort kundtust, wenn dir etwas nicht gefällt, was ich tue. Ich verspreche dir, dass ich nicht irritiert sein werde und sofort darauf in deinem Sinne eingehen werde. Und ich werde sofort mitteilen, was sich für mich nicht gut anfühlt, und gerne Berührungsalternativen nennen.“

Ich finde das ist eine sehr erwachsene und ganz wunderbare Aussage, die im besten Sinne fürsorglich für beide ist. Auf diese Weise ist ständiges Nachfragen gar nicht nötig. Zusätzlich darf ich erleben wie es mich entspannt, wenn jemand gut für sich sorgt.

Wie lassen sich Körpersignale aber auch Äußerungen so deuten, dass es nicht zu Missverständnissen kommt? Was hilft im Vorfeld, um herauszufinden, ob mein Gegenüber den intimen Kontakt in dieser Form auch wirklich will?

Körpersignale sind so gut wie nie eindeutig – das zu wissen ist ein sehr wichtiger erster Schritt. Wenn ich Zweifel habe, ob ich jemanden richtig verstehe, hilft nur eins: fragen. »Möchtest du, dass ich dich küsse?«

„Möchtest du, dass ich damit weitermache?“

Wie kann ich in der Begegnung selbst herausfinden, ob mein Gegenüber noch im Konsens ist, ohne dass der intime Moment durch fortlaufendes Nachfragen gestört wird?

Deine Frage impliziert, dass Kommunikation die Intimität stört. Ich sehe es eher so, dass Intimität durch Kommunikation entsteht. Wie wäre es, wenn wir sexy kommunizieren? Ich finde die Frage: „Möchtest du, dass ich damit weitermache?“ eher erotisch als störend. Und auch mein „Oh, jaaaaa…“ kann für mich, wie für mein Gegenüber, erotisch sein. Zusätzlich kann ich durch hörbares atmen, stöhnen, brummen, schnurren und die Bewegungen meines Körpers kommunizieren.

Auf der anderen Seite: Was können jene beitragen, die sich schwer damit tun, ihre Grenzen zu erkennen und zu äußern bzw. zu zeigen? Wie lässt sich die klare Kommunikation üben?

Wer seine Grenzen zwar kennt, aber sich damit schwertut sie mitzuteilen, hat vermutlich ein Thema mit dem eigenen Selbstwert oder unbewusste Glaubenssätze. Wenn ich mich selber als wertvoll wahrnehme, liegt es auf der Hand, dass ich nicht nur mit einem „Ja“ wertvoll bin, sondern mit allen meinen Facetten und Anteilen. Üben lässt sich das, indem ich mich häufiger – auch in Alltagssituationen – frage, was gerade mein Wunsch ist, womit es mir gut gehen würde und darüber spreche.

Selbstwertthemen können sehr komplex sein, so dass es hilfreich sein kann sich in der Findung der eigenen Werte begleiten zu lassen.

Mein Geschenk an mein Gegenüber kann eine Handlung oder eine Erlaubnis sein.

Was passiert aus deiner Sicht, wenn zwei Menschen nicht im Konsens sind, auch feste Paare: Gibt es „Warnzeichen“ vorab? Und wie können beide Partner*innen darauf reagieren?

Als Paar im Alltag nicht immer im Konsens zu sein, halte ich für normal und wichtig. Der Sexualtherapeuten David Schnarch nennt Differenzierung als wichtige Voraussetzung für gelingende Erotik in der Partnerschaft. Warnzeichen in der gemeinsamen Sexualität können ein häufiges Gefühl der inneren Leere und Unverbundenheit sein, manchmal auch wachsende Lustlosigkeit. Spätestens dann wird es wichtig sich darüber zu unterhalten, was man sich beim Sex wünscht.

Ich bin ein großer Fan des 3-Minuten-Spiel, das sich auf das Wheel of Consent, das Konsens-Rad, bezieht. Mit den Fragen „Wie möchtest du mich berühren?“ und „Wie möchtest du von mir berührt werden?“ lassen sich ganz praktisch unterschiedliche Berührungen erleben und erforschen. Sehr aufschlussreich ist dabei die Erkenntnis, dass es Konsens nicht nur in der Dynamik „dienen (umgangssprachlich geben) und empfangen“ gibt, sondern ebenfalls in der Dynamik „nehmen und erlauben“. Mein Geschenk an mein Gegenüber kann eine Handlung sein oder eine Erlaubnis, die vorher gegeben wurde.

„Nur ein Ja ist ein Ja.“

Aus deiner Erfahrung heraus: Was wünschst du dir, damit das Thema Konsens mehr in die Öffentlichkeit gelangt, ohne für zusätzliche Verunsicherung zu sorgen?

Offenere Kommunikation über Sexualität – ganz klar. Zusätzlich ein wachsendes Bewusstsein für Grenzen – auch im Alltag. „Nur ein Ja ist ein Ja.“ bringt es für mich gut auf den Punkt. Wenn es uns dann noch gelingt, den eigenen Unsicherheiten liebevoller zu begegnen, sind wir ein großes Stück weiter, uns als Menschen wertschätzend zu begegnen.

Auf seinem Blog zu Achtsamkeit und Sexualität hat Michael Firnkes weitere interessante Fragen über Weibliches Begehren an Hanna Krohn und an Alma Katrin Wagnere über Intimität in Beziehungen gestellt.

Was ist der Vorteil von Konsens?

Der Begriff Konsens ist uns eher aus dem geschäftlichen Umfeld bekannt: Eine Entscheidung ist getroffen, wenn alle dafür sind. Der Vorteil einer einvernehmlichen Entscheidung liegt auf der Hand: Wenn ein Konsens erzielt wurde und damit vielleicht ein Problem aus der Welt geschaffen wurde, stehen alle Beteiligten hinter dem gefundenen Beschluss und tragen ihn gemeinsam mit.

Das ist etwas grundsätzlich Anderes als eine Abstimmung, bei der es immer Gewinner und Verlierer gibt.

Ich zeige hier warum es vorteilhaft ist, den Begriff Konsens im Licht einer partnerschaftlichen Liebesbeziehung oder einer erotischen Begegnung zu betrachten.

In der Liebe und Erotik haben wir das Ideal uns frei fühlen zu wollen, bestenfalls mit dem Partner gemeinsam im Flow zu sein.

Konsens in Berührungen

In erotische Begegnungen wollen wir uns als Paar genießen und uns über den Raum, der zwischen uns entsteht, freuen: Verbindung spüren, uns gegenseitig nähren, Liebe, Lust und Leidenschaft erleben.

Für den Wunsch nach diesem Gefühl rechnen wir nicht auf, erlauben uns und dem Partner*in sich fallen zu lassen und lassen manchmal »fünfe gerade sein« – sind großzügig. Häufig empfinden wir uns in dieser Großzügigkeit als besonders liebevoll.

Aber…

Wir sind auch deshalb großzügig, weil wir uns mit einem Menschen in eine intime Welt begeben, in der wir sehr viel von uns zeigen und uns dementsprechend verletzlich fühlen.

Wie heißt der Satz: »Was du nicht willst, dass man dir tu‘, das füg auch keinem andern zu.« Sind wir vielleicht auch manchmal großzügig um damit der Gefahr zu entgehen selber kritisiert zu werden?

Sage ich vielleicht deshalb nicht: »Ich finde es schöner, wenn du mich auf eine andere Art, in einem anderen Tempo, an einer anderen Stelle berührst«, weil ich es selber nicht gerne hören würde? Weil sich dann das Gefühl bei mir einstellen könnte, ich sei »nicht gut im Bett«?

Das geschieht, wenn wir unsere Wünsche nicht äußern

Wenn wir unsere Wünsche nach Berührung gar nicht oder eben nicht genauer äußern, wo bleibt dann diese kleine Enttäuschung? Wenn er einen Hauch zu kräftig über unsere Haut streicht und wir deswegen nicht in unser entspanntes Wohlgefühl kommen? Oder wenn sie immer wieder zögerlich und zurückhaltend in ihren Berührungen bleibt?

(Ich nutze für diese Beispiele ganz bewusst Klischees, weil sie in diesem Fall helfen können Dynamiken besser zu entschlüsseln.)

Wollen wir Sex haben?

Diese kleinen Enttäuschungen sammeln sich auf einem kleinen Haufen. Und wenn das nächste Mal die Frage in der Luft liegt: »Wollen wir Sex haben?«, dann kommen sie um die Ecke gekrochen und bringen Zweifel und unter Umständen Unlust mit. Nach dem Motto: Dann passiert wieder das, was ich eigentlich nicht 100%ig schön finde, was mich nicht wirklich entspannt, was mich nicht wirklich anmacht, was sich lau anfühlt.

Mit diesem kleinen Haufen Enttäuschungen sind wir immer leichter geneigt »Nein, danke« zu denken und schlagen vor, doch vielleicht lieber gemeinsam ins Kino zu gehen.

Konsens, also von beiden empfundene Einvernehmlichkeit, schafft uns also einen sicheren Raum in dem wir davon ausgehen können, dass eine Berührung sich genau dann gut anfühlt, wenn wir jederzeit zu ihr »Ja« oder »Nein« sagen dürfen.

Wenn Berührung ein Geschenk ist

Wenn ich Wünsche formulieren darf, weil ich mir sicher sein kann, dass die Berührung ein Geschenk für mich ist.

Wenn ich mir dieser gebenden Motivation meiner Partner*in sicher sein kann, bin ich frei jederzeit etwas zu verändern: Ich kann mir Varianten oder auch etwas ganz Anderes wünschen – und muss mir nicht Kopf zerbrechen, ob ich meinen Partner*in mit meinen Wünschen irritieren oder ob er/sie sich beleidigt fühlen könnte.

Wheel Of Consent, Konsens-Rad. Dynamik geben - empfangen

Der Text beschreibt die Dynamik in Berührungen zwischen den Quadranten „Geben“ und „Empfangen“ im Wheel Of Consent von Dr.Betty Martin

Die vier Hauptaspekte der Sexualität

Die Bedeutung des „Wheel of Consent“

Das auf dem schamanistischen Medizinrad basierende und von der deutschen Sexual- und Beziehungsberaterin Sandra Kaiser adaptierte Konsens-Rad der amerikanischen Bodyworkerin Dr. Betty Martin zeigt die vier Hauptaspekte der Sexualität auf. Eine gesunde, voll entwickelte und in die Persönlichkeit integrierte Sexualität besteht aus den vier Aspekten Geben und Empfangen, Nehmen und Erlauben.

Die aktive Seite – ich handle

Geben:
Das Geben ist eine aktive Handlung, die als absichtsloses Geschenk zum Vergnügen des/der Anderen gedacht ist – solange der/die Gebende sich nicht aufdrängt oder sich im Anderen verliert.

Nehmen:
Das Nehmen ist eine aktive Handlung zum eigenen Vergnügen. Nur wenn sich der/die Andere hingibt, kann er/sie das Nehmen genießen und die Situation wird nicht respektlos oder übergriffig.

Andere handeln – ich erlebe

Erlauben:
Das Erlauben ist eine aktive Entscheidung zum Vergnügen des/der Anderen, die mit Hingabe bezeichnet wird. Nur freiwillige Hingabe ist ein Geschenk an die/den Aktive/n. Tolerierter oder ertragener Hingabe ist keine aktive Entscheidung und damit kein Geschenk .

Empfangen:
Das Empfangen ist ein passives Vergnügen durch die Handlung des/der Anderen. Wer eine Massage empfängt, empfindet beispielsweise Dankbarkeit. Die Schattenseite kann sein in die Abhängigkeit des Brauchens zu geraten.

Der Konsens:
Wer sich verbunden fühlt hat jederzeit die Wahl etwas an der Situation zu verändern und damit gemeinsame Sexualität als einvernehmliches Geschenk zu erleben. Außerhalb dieser Einvervehmlichkeit kann es, teils auch ungewollt, zu Missbrauch kommen.

Lernpotenzial:
In der Sexualität unserer Gesellschaft ist es vorwiegend so, dass Männer aktiv und Frauen passiv sind – und damit beide ein entsprechendes Gegenüber „brauchen“. Männer dürfen lernen, uneigennütziger zu geben, konsensualer zu nehmen und sich hinzugeben. Frauen dürfen lernen zu handeln.

Sexualität als Teil unserer Persönlichkeit

Wir tun gut daran, neben unserer Persönlichkeitsentwicklung genauso auf unserer Sexualität zu schauen und neben Empathie auch Beziehungsfähigkeit zu entwickeln – zwei Seiten der gleichen Thematik, bei der es um Miteinander und Intimität geht. Viele von uns haben in einem oder mehreren dieser Quadranten einen blinden Fleck.

Problematisch wird es, wenn die Sexualität nicht in die Persönlichkeit integriert ist, sondern kompensatorisch ausgelebt wird. Wenn die Vorlieben bewusst in die eigene Sexualität integriert sind, unterstützen sie die Persönlichkeit.

Danke für den Text an René Roland Katterwe

Dieser Text ist inspiriert von dem von Dr. Betty Martin entwickelten „Wheel of Consent“. Weitere Informationen finden Sie unter www.schoolofconsent.org