Das Konsens-Rad – The Wheel of Consent

Grafik des Wheel Of Consent, Konsens-Rad, Dr. Betty Martin

Was sind für dich Berührungen, die guttun?

Komplexe Antworten auf eine einfache Frage

»Berührungen, die mir guttun, sind Berührungen, die mir gefallen« ist eine mögliche und naheliegende Antwort. Was aber gefällt dir? Kennst du deine eigenen Wünsche und kannst sie formulieren? Oder geht es dir wie vielen anderen Menschen, die sagen: Ich weiß zwar genau, was ich nicht mag, aber zu sagen was ich mag, fällt mir schwer.

Was genau fällt dir daran schwer? Kennst du deinen Körper und weißt, was sich gut für ihn anfühlt? Oder bist du manchmal unsicher darüber, ob sich etwas wirklich gut für dich anfühlt? Fällt es dir leicht, Worte für deine Wünsche zu finden? Oder fühlst du dich eher ungeübt darin? Kannst du jederzeit sagen, dass und was du dir anders wünschst? Oder wartest du lieber, ob es sich von alleine verändert?

Und wie ist es in der Sexualität? Kannst du mutig sein und etwas Neues ausprobieren? Fühlst du dich sicher, dass dir gesagt wird, wenn deine Berührungen dem oder der anderen Person nicht gefallen?

Forschen im Berührungslabor

Zur Erforschung von offenen und komplexen Fragen hilft es, sich mit einem Modell zu beschäftigen. Dynamiken lassen sich durch die Struktur leichter erkennen, unterscheiden und kommunizieren.

Das »Konsens-Rad«, englisch »Wheel of Consent«, der Bodyworkerin Dr. Betty Martin ist so ein hilfreiches Modell. Im »3-Minuten-Spiel« wird es körperlich erfahrbar. Es werden einvernehmliche Berührung zu zweit erforscht und die Kommunikation darüber gefördert: Ein Berührungslabor.

Einvernehmlichkeit ist die Basis für Berührungen, die guttun

Im »Konsens-Rad« werden Berührungen nicht nur dadurch unterschieden, wer gerade handelt, sondern zusätzlich danach zu wessen Vergnügen die Handlung geschieht. Wer gibt und wer bekommt gerade ein Geschenk?

Durch diese Unterscheidungen ergeben sich 4 Viertelkreise (Quadranten), die jeweils eigene Qualitäten und Herausforderungen in sich bergen. Gemeinsam ist allen, dass die Berührungen einvernehmlich sind und das bedeutet: Jeder darf sich zu jeder Zeit Veränderung wünschen!

Du darfst dir Veränderung wünschen, wenn sich Berührungen anders anfühlen, als es dir guttut – ohne das Gefühl zu haben, deswegen anstrengend, anspruchsvoll oder gar zickig zu sein. Du darfst dir Veränderung wünschen, wenn sich Berührungen sich nicht so anfühlen, wie du es dir vorher vorgestellt hast – ohne dich damit widersprüchlich oder unerfahren zu fühlen. Du darfst etwas verändern, wenn du bemerkst, dass du die Berührungen, die du gerade gibst, nicht wirklich gerne gibst – ohne ein schlechtes Gewissen zu haben.

Im Berührungslabor des »3-Minuten-Spiel« gibt genau zwei Fragen, die an dich gerichtet werden: »Wie möchtest du von mir berührt werden?« und »Wie möchtest du mich berühren?« Beide Fragen sind Angebote an dich, »Geschenke« wie sie im »Konsens-Rad« genannt werden.

Wie möchtest du von mir berührt werden?

Wenn du die Person bist, der diese Frage gestellt wird, befindest du dich im Quadrant »Annehmen« des Modells. Deine Aufgabe ist es, dir ausreichend Zeit mit der Beantwortung zu nehmen und in dich hinein zu spüren: Was sind genau in diesem Moment und genau mit dieser Person für dich Berührungen, die dir guttun? Wonach hast du Sehnsucht? Was sind deine Wünsche?

Nimm dir so viel Zeit für deine Antwort, bis du deine innere Wahrheit spüren kannst. 20 Sekunden – ca. 3 tiefe Atemzüge – solltest du dir mindestens nehmen, denn Antworten, die sehr schnell gegeben werden, sind häufig schon vorher zurechtgelegt und entsprechen vermutlich nicht deinen aktuellen Wünschen. Sei fantasievoll und nutze deine Möglichkeiten!

»Würdest du mir mit deinen Fingerspitzen zart die Kopfhaut kraulen?«
»Würdest du mir eine kräftige Schultermassage geben?«
»Würdest du mit deiner ganzen Hand sehr langsam die Innenseite meiner Oberschenkel hinauf streichen?«

Zur Beschreibung der eigenen Wünsche sind diese Aussagen hilfreich:

• Form (z.B. mit einem Finger, mit den Fingerspitzen, mit der ganzen Hand, mit dem Unterarm, mit den Haaren),
• Druck (z.B. federleicht, zart, kitzelnd, streichend, streichelnd, kräftig, klopfend, knetend)
• Tempo (schnell, langsam, Zeitlupentempo, (still) haltend) und die
• Körperbereiche (z.B. Hände, Arme, Schultern, Kopf, Gesicht, Nacken, Oberkörper, Rücken, Po, Beine, Füße, ganzer Körper )

Die Intention einer Berührung ist ebenfalls wichtig. Beispiele dafür sind

• Diagnostische Berührung, die die Verfassung eines Menschen durch Berührung ausloten
• Unterstützende Berührung, mit der Qualität von Halt oder Fürsorge
• Konfrontative Berührung, mit der Qualität von Widerstand und Provokation
• Verführende Berührung, mit der Qualität von Erotik
• Nehmende Berührung, mit der Qualität von eigener Bedürftigkeit

Wenn dein Gegenüber deinen Wunsch gerne erfüllt (»Ja, ich würde.«) bekommst du drei Minuten lang genau die Berührungen, die dir guttun. Behalte im Sinn, dass es jederzeit möglich ist etwas zu verändern und übernimm Verantwortung dafür, dass es dir gut geht!

Wie möchtest du mich berühren?

Die Person, die diese Frage hört, befindet sich im Quadrant »Nehmen« des »Konsens-Rad«. Für viele Menschen ist dieser Quadrant mit Unsicherheit besetzt, weil sie nicht übergriffig sein wollen. Hier aber darfst du deine Wünsche äußern! Was reizt dich am Körper der anderen Person? Wohin zieht es deine Hände? Welche Formen, Oberflächen oder Strukturen möchtest du erforschen? Was würde dir und deinen Händen Freude und Lust bereiten?

Wir sind darin geübt, Hände als Werkzeuge einzusetzen – hier aber geht es um deren Sensitivität.
Vielleicht schließt du einen Moment lang die Augen, um zu fühlen, was deine Handflächen und Fingerspitzen spüren möchten.

»Darf ich dein Gesicht berühren?«
»Darf ich dir zart den Nacken streicheln?«
»Darf ich deinen Po kräftig kneten?«

Dein Gegenüber nimmt sich die Zeit, die es braucht, damit sich eine klare Antwort entwickeln kann und es sich mit der Erlaubnis sicher fühlt. Wenn es Unklarheit bei der Beantwortung der Frage verspürt, kann es dafür unterschiedliche Gründe geben: Vielleicht braucht es Nachfragen (»Welchen Teil meines Gesichts möchtest du berühren?«) oder Einschränkungen (»Ja, du darfst mein Gesicht berühren, aber nicht meine Nase.«) oder es braucht mehr Zeit, bis sich ein klares Ja oder Nein entwickeln kann.

Wenn dein Wunsch gerne erfüllt wird (»Ja, du darfst.«) berührst du die Person 3 Minuten lang zu deinem Vergnügen. Achte darauf, dass du nicht heimlich versuchst zu geben. Damit nimmst du dir die Chance auf Wahrhaftigkeit und dein Gegenüber wird es vermutlich spüren. Lass dich von deinen Händen führen!

Zwei Geschenke für dich

Nach Abschluss dieses Teils hast du zwei Geschenke bekommen. Einmal hat dein Gegenüber gehandelt und einmal hast du gehandelt.

Diese Dynamik wird im Konsens-Rad mit den beiden Pfeilen in der Mitte »Handlung« und »Geschenk« dargestellt.

In den ersten drei Minuten hatten die beiden Pfeile die gleiche Richtung. Du hast im Quadrant »Annehmen« ein Geschenk bekommen und jemand anders hat gehandelt. Der Handelnde befand sich im Quadrant »Dienen«. In den zweiten drei Minuten hatten die Pfeile eine entgegengesetzte Richtung. Du hast im Quadrant »Nehmen« ein Geschenk bekommen und hast selber gehandelt. Dein Gegenüber befand sich im Quadrant »Erlauben«.

Um die Richtung des Geschenks zu verdeutlichen, ist es wichtig, sich im Anschluss an die drei Minuten bei deinem Gegenüber zu bedanken und die Antwort zu hören: »Gern geschehen«. Jetzt werden die Rollen getauscht und du stellst die selben zwei Fragen. Danach gibt es eine Feedback-Runde: Welche Rolle fiel mir leicht, welche fand ich herausfordernd?

»Dienen & Annehmen« oder »Nehmen & Erlauben«?

Die Dynamik zwischen den Quadranten »Dienen & Annehmen« ist uns vermutlich am ehesten bekannt und bewusst, weil wir sie aus unserem Alltag kennen. Wenn wir beispielsweise eine Massage buchen, befinden wir uns im Modell in einem »Dienen & Annehmen« Verhältnis.

Anders würde es sich verhalten, wenn der Masseur noch in der Ausbildung wäre und dich als Bekannter oder Freund fragt, ob er an dir die neu erlernten Griffe üben darf – dann wärt ihr in einem »Nehmen & Erlauben« Verhältnis.

Die beiden unterschiedlichen Konstellationen des »Konsens-Rad« lassen sich auf weit mehr Bereiche des Lebens anwenden, als auf Berührungen.

In welcher Dynamik befindet ihr euch, wenn dir eine Freundin ihr Herz ausschüttet? Hat sie dich gefragt, ob du gerade Zeit und innere Kapazität hast, dir ihren Kummer anzuhören? Wie reagiert sie, wenn du nach einer angemessenen Zeit das Thema wechseln möchtest? In welcher Dynamik befindet ihr euch, wenn dich ein Freund fragt, ob du ihn einen Moment lang in den Arm nehmen kannst? Wie wäre es, wenn du ihm stattdessen mit den Worten: »Das wird schon wieder!« ermunternd auf den Rücken klopfst?

Und wie ist das in der Sexualität?

In der Sexualität kann das »Konsens-Rad“ zusammen mit dem »3-Minuten-Spiel« euch darin unterstützen überhaupt (wieder) Berührungen miteinander zu erleben. Zusätzlich kann es dir helfen, dir deiner eigenen Wünsche bewusst zu werden, jemandem neue Erfahrungen zu ermöglichen, Hingabe und Annahme zu üben und dich mutig und fantasievoll mit deinen Wünschen zu zeigen.

Wenn diese Erfahrungen neu für euch sind, kann das Berührungslabor einen sicheren Raum bieten, indem ihr euch zusammen erforschen und ausprobieren könnt. Beginnt am besten Schritt für Schritt und zunächst bekleidet. Je mehr Kleidung ihr ablegt, je erotischer euer Labor wird, desto nackter und verletzlicher seid ihr. Das kann wunderschön sein, aber es kann auch leichter in alte Muster führen.

Die Teilnehmer des letzten 3-Minuten-Spiels am haben Essentielles erlebt:

• Sie haben erlebt, dass sie für sich sorgen können und ihre Grenzen und Bedürfnisse geachtet werden.
• Sie haben erlebt, dass sie sich freier fühlen, wenn sie wissen, dass ihr Gegenüber für sich selber sorgt.
• Sie haben erlebt, dass sie sich leichter fallen lassen können, weil sie die klare Struktur des Spiels entlastet.
• Sie haben erlebt, dass ihre Emotionen willkommen sind.
• Sie haben erlebt, dass sich Berührungen – auch von vorher Fremden – nährend und entspannend anfühlen können
• Sie haben erlebt, dass ihr Wohlgefühl entscheidend ist.

Berührungen, die guttun

Weitere Informationen in englischer Sprache zum „Wheel of Consent“ unter www.schoolofconsent.org